von Andrea Z. Rhein.
Er ist im Buch “Niedersächsische Einladung -Erzählungen, Geheimnisse und Rezepte” erschienen, Größenwahn Verlag Frankfurt am Main 2016.
Anno 1637 – Wilhelm zog seinen Umhang fest über der Brust zusammen und folgte dem Klappern der Hufe auf dem hartgefrorenen Feld. Folgte Anton, dem Ältesten von ihnen, mit dem Esel.
„Komm schon“, raunte Wilhelm seinem jüngeren Bruder Jacob zu. Irgendwo hinter ihm trottete der durch die tiefschwarze Februarnacht. Bis Ovelgönne war es nicht weit.
„Was machen wir mit ihr, wenn wir sie haben?“, japste Jacob, als er stolpernd neben Wilhelm erschien.
„Dummkopf“, schnaubte Wilhelm. Wieso konnte Jacob nicht einfach das Maul halten, konnte nicht im Dunkeln der körperlosen Nacht lassen, was sie vorhatten. Es war doch klar, was sie mit Anna zu tun hatten. Und sie hatten keine Zeit zu verlieren. Schon bald würde die Magd verhört werden.
Und dann würden sie vor Gericht landen und die Augen aller, die der Angesehenen wie der Niederen, der Ehrenwerten wie der Unwerten, der Nachbarn ebenso wie der Fremden, würden sich sie, die unbescholtenen Brüder vom Golzwarder Hof richten. Und die schimpflichste aller Strafen würde sie erwarten: Ohne Begräbnis würden ihre Körper zu aller Gespött, zur Entehrung ihrer Sippe und zum Fraß für die Vögel am Galgen hängen, bis sie abfielen. Und ihre verstoßenen Seelen würden in der Hölle schmoren. Nur wegen einer Magd und ihrem Kind. Was hatte sie auch schwanger werden müssen?
Besprungen hatten die zwei Älteren sie. Wie die Stiere die Kuh. Immerhin war Anna klar gewesen, dass niemand von der Schande in ihrem Leib erfahren durfte, wenn sie auf dem Hof bleiben wollte. Und so hatte sie ihre wachsende Frucht mit weiten Röcken und Schürzen verhüllt.
Sobald die Geburtsschreie verstummt waren, hatten die zwei Brüder ihre Kammer betreten.
„Erstick das Balg“, hatte Anton gesagt und Tücher auf das noch blutbeschmierte Gesichtchen gelegt. Doch Anna hatte sich nur schluchzend weggedreht. Also hatte Anton ihre Hand genommen, sie auf die Tücher gepresst, dass die Magd sich nicht wehren konnte, und so hatten sie gemeinsam das Hurenkind samt Sünd und Schande getötet. Und damit wäre alles gut gewesen.
„Im Kindsbett gestorben“, hatten sie dem erstaunten Jacob erklärt. „Ein Glück für die treulose Magd. Tragen wir in`s Moor.“ Doch just in dem Moment war die Amme ins stattliche Deelenhaus gekommen. Der Umstand der Magd war dem geschulten Blick wohl doch nicht verborgen geblieben. Ebenso wenig wie die Abdrücke in dem kleinen Gesicht. Anton hatte zu fest gedrückt.
Als Anna abgeführt worden war, hatte sie kein Wort gesagt. Doch wie lange würde sie schweigen? Wie lange würde ihr von der Geburt geschwächter Körper der Folter stand halten?
Es war doch klar, was sie mit Anna zu machen hatten.
„Versteck dich da und ruh dich aus“, befahl Anton und schob Anna zum Vieh. Mit hohlen Augen und eingefallenen Wangen huschte sie in die hinterste Ecke und kroch unter das Stroh. Der Kerkermeister hatte das Geld in seinen Beutel gesteckt und den Kerker aufgeschlossen. Und Anna war umstandslos mitgekommen, hatte ihnen geglaubt, dass man sie auf dem Hof des Onkels in Varel bringen wolle, wo sie unbescholten würde arbeiten und leben können.
„Wir warten, bis sie schläft“, raunte Anton seinen Brüdern zu.
Sie erschrak aus dem immer selben Albtraum, der von ihr Besitz ergriffen hatte seit der furchtbaren Tat. Ihr Bauch schmerzte – vor Hunger, vor Trauer, vor Leere. Heiß brannte die Scham in ihrem Schoß und in ihrem Herzen. Doch noch etwas anderes regte sich in ihr – das Gefühl beobachtet zu werden. ›Die Flucht ist entdeckt und nun kommt man mich zurückholen ins Gefängnis‹, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie hielt den Atem an.
Durch die Lücken im Stroh starrte sie in die einbrechende Dämmerung.
Dort, direkt vor ihr, stand doch jemand! Ihr Herz schlug viel zu laut. Es würde sie verraten.
Der Hieb kam unvermittelt und streifte sie am Arm. Schnell rollte sie sich fort. Schon traf der nächste Schlag dort ein, wo sie gerade noch gelegen hatte. Sie krauchelte auf und quetschte sich am Vieh vorbei, lief zum offenen Tor. Hinter ihr Schritte. Draußen lag das Land gespenstisch im Nebelschleier. Wo waren die Bauersleute?
Da, im Nebel, stand Anton! Mit ausgebreiteten Armen wartete er in einigen hundert Fuß auf sie. Für einen Moment war ihr, als erwache sie aus einem nächsten, bösen Traum. Wenn sie ihn nur erreichte, wäre alles gut. Er würde sie beschützen und nach Varel bringen.
Sie stürzte auf ihn zu. Er nahm sie fest in seine Arme, roch nach Sicherheit.
Doch warum drückte er sie von sich? Jetzt schaute er hinter sie. Sie wandte sich um. Wilhelm! Mit schwingendem Beil und grimmigem Blick kam er vom Torbogen näher. Jacob dahinter. Und in dem Moment, in dem Anna klar wurde, warum die Brüder sie befreit hatten, stieß Anton sie auf Wilhelm mit dem Beil zu. Aber Anna lief los. Fort von den Brüdern, fort vom Hof, schnell zum Weg. Sie lief und meinte dennoch, nicht von der Stelle zu kommen. Bis sie fiel.
„Jetzt wird`s niemand erfahren“, hauchte Wilhelm über ihr, während Anna in endloser Nacht versank.
Anno 1651 – „So ist unstrittig, dass ihr euch des niederträchtigen Mordes an eurer Magd Anna schuldig machtet“, donnerte die Stimme des Procurators über den Gerichtsplatz.
Wilhelm stand mit gesenktem Kopf zwischen seinen Brüdern. Wie Pech klebten die Blicke der versammelten Ovelgönner Bürger an ihnen. All die Jahre hatten sie dem alten Hinrich einen Talerbeutel nach dem anderen zugesteckt. So hatten sie ein ruhiges Leben führen können, hatten geheiratet, legitime Kinder gezeugt, ihre Arbeit verrichtet und dan den Dorffesten teilgenommen. Bis der alte Hinrich die Ratsherren doch noch ins Moor geführt hatte. Dorthin, wo er damals die Brüder beobachtet hatte. Mit Mistgabeln fischten sie den Körper aus seinem feuchten Grab. Ihr Gesicht wie mit schwarzem Leder überzogen, ein beiltiefer Spalt in ihrem Leib.
Der Procurator gab dem Gerichtsschreiber das Zeichen zur Urteilsverkündung. Wilhelm schluckte. Nun würden sie doch noch sterben. Nicht für den Kindsmord, wohl aber für Annas Tod. Wilhelm presste die Beine zusammen, um das Zittern zu verbergen.
Mit fetter Faust glättete der Gerichtsschreiber die Urteilsschrift.
„Anton, Wilhelm und Jakob, die Brüder vom Golzwarder Hof, da nicht bewiesen, welcher die Waffe geführte, die die Magd Anna schändlich gerichtet, sind verurteilet, dass sie von Ämtern und anderen ehrlichen Geschäften fortan ausgeschlossen sind. Außerdem sollen sie errichten einen Sühnestein, welcher nicht geringer ist, als die Anne selbst im Maß war. Der Stein ist aufzustellen an dem Orte, an welchem sie die Magd getötet, auf ihrem Hof zu Golzwarden. IN der Inschrift sollen sie ihrer Tat gedenken, auf dass ewig währet und sichtbar sei ihre Schuld.“
Ein Raunen ging durch die Menge. Wilhelm schwanden die Sinne.
Anno 1700 – „Hier ist’s gut“, sagte Johann und zog die Zügel an. Das Holz des Wagens knarzte unter dem schweren Stein. Neben der Graft kam der alte Friesengaul zum Stehen.
„Endlich kommt er weg“, meinte Günter, „und vorbei sind Unglück und Gespött.“ Er sprang vom Bock, spannte das Pferd ab und führte es um den Wagen, während Johann lange Riemen um den Stein legte.
„60 Taler haben die Großväter bezahlen müssen. Für den Stein und seine Beförderung von Bremen“, keuchte Johann und zog einen festen Knoten.
„Soviel wie für fünf Kühe und drei Pferde“, meinte Günter. Er kletterte auf die Kutsche und half, die Riemen am Zaumzeug zu befestigen. „Und keiner wollte mit unserer Sippe Geschäfte machen. Geächtete waren sie. Die ganze Armut … nur wegen dem verdammten Ding.“ Er spuckte auf den Stein.
„Das hat nun ein Ende!“ Johann nahm die Peitsche und gab dem Pferd einen Schlag. Als das Tier anzog, landete der Stein mit einem lauten Platsch im Wasser und versank.
Anno 1755 – Eintrag im Archiv der Vogtei Golzwarden: Den 23. Juno haben Sielarbeiter, als sie die Graft am Golzwarderwurp geschlötet, einen Sühnestein gefunden und hernach geborgen, und, da zum Golzwarder Hof gehörig erkannt, dorthin zurück geführet und wieder errichtet. So, wie eben durch die Aufschrift auf dem Steine bestimmt worden.
O MENSH SCHAW DIES BEDENKS VND SÜNDIG NICHT1
WEIL GOTT NACH SEINEM STRENGEN GRICHT
DAS BÖS GWIS STRAFT VND BRINGTS ANS LICHT
WENS GLEICH BEI NACHT VND HEIMLICH GSCHICHT
DRUMB MENSH FÜR GOTTES ZORNIG GSICHT
DICH JA STETS FURCT VND SÜNDIG NICHT
ANNO 1637 IM FEBRUARIO IST ANNA RUDEBUSCH
SONST DIE GROSSE ANNA GEHEISSEN,
NACHDEM SIE AUS DER HAFT ENTFUHRET
AUF DIESEM … ERMORDET WORDE
WELCHE THAT DAN ERST 14 JAHR HERNACH ALS
RECHT AN DEN TAG KOMMEN
VND AN THEILS DER SCHULDIGEN BESTRAFFET WORDEN
1 Original Inschrift vom Sühnestein in Brake bei Oldenburg